31. Oktober 2014

Der Mann von Gegenüber



Ob er Haare auf dem Kopf hat, wissen wahrscheinlich nur seine Kollegen. Und seine Frau natürlich. Ich jedenfalls habe ihn in den vielen Jahren nicht ein einziges Mal ohne Helm gesehen. Morgens, wenn er sich auf den Weg zur Arbeit macht, zieht er die Haustür auf und schaut zuerst einmal nach links und dann nach rechts. Wenn keiner kommt, schiebt er sein Rad auf den Bürgersteig und von da auf die Straße. Jetzt stellt er den linken Fuß aufs Pedal und bringt mit zwei, drei kräftigen Stößen des rechten Fußes das Rad in Schwung, bevor er das Bein in einem hohen Bogen über den Sattel zieht und davonfährt. Abends, wenn er nach Hause kommt, schließt er die Tür auf, öffnet sie einen Spalt breit und drückt sie mit dem Vorderrad nach innen. Vermutlich setzt er seinen Helm erst ab, wenn er oben in seiner Wohnung ist und sicher sein kann, dass keine Gefahr mehr droht.

30. Oktober 2014


Mit der Rhetorik eines Anlageberaters schwadronierte er, was das Zeug hielt, um sie zu beeindrucken. Der klassische Parvenü, der er war, spürte sofort, wie sehr sie den Wind genoss, den er machte. Sie gierte regelrecht danach, von ihm genarrt zu werden. 















Den Gedanken ihren Lauf lassen. Einfach dasitzen und, wenn der Einfall aufblitzt, zupacken. Nichts wollen, einfach abwarten, ermahnte er sich.

28. Oktober 2014

Vergangenheitsbewältigung

Langgestreckt lag er auf dem Sofa und schlief, die Arme eng am Körper, der Kopf leicht erhöht auf einem weißen Kissen. Das Bild, das er abgab, schien ihr bekannt. Aber es war wie ein gesuchtes Wort, das auf der Zunge liegt und nicht rauswill. Als er die Augen öffnete, lachte sie plötzlich auf: „Wie Lenin! Wie Lenin hast du da gelegen!“ – „Ihr Ossis werdet euere Vergangenheit nie los“, erwiderte er kopfschüttelnd und ging ins Bad.

Sie packte ihn an den Armen und drückte ihn von sich weg, beguckte ihn von oben nach unten und von unten nach oben. Dann lachte sie und zog ihn an sich. „Dich gibt es also noch?“

26. Oktober 2014



Ein Geruch von Verwesung stieg ihm in die Nase beim Anblick des kleinen Teichs, in dem kleine Fische schwammen, bewacht von einem langbeinigen Reiher aus Plastik, als lauerte er auf den richtigen Moment, einen Riss zu vollziehen. Auf die Dachbalken hatte der Hausherr seine Initialen gemalt. 

25. Oktober 2014


















Wenn der Rhein in Sicht war, wurde sein Schritt schneller und er begann zu rennen, bis er erschöpft am Ufer ankam. Atemlos sah er dem nervösen Gewimmel der kleinen Fische eine Weile zu, bevor er vorsichtig mit der Fußspitze das Wasser berührte. Jedes Mal war er erstaunt, dass sie im selben Moment verschwunden waren. Immer hatte er sich gefragt wohin.

24. Oktober 2014

Gestern Abend beim Äppelwein

Sein exakt gescheiteltes, glattes Haar verlieh ihm das Aussehen eines Mannes, der, bevor er das Haus verlässt, sich dreimal versichert hat, dass die Kühlschranktür und sein Hosenriegel geschlossen und das Licht in allen Zimmern gelöscht ist. Mit einem Stück Baguette wischte er den Rest der Sauce vom Teller und steckte es sich in den Mund. Dann nahm er das nächste Stück und wischte sorgfältig nach, als wollte er den Teller polieren. Mit dem Ausdruck tiefer Zufriedenheit schob er ihn auf die Seite und blickte abwesend vor sich hin. Nur das rhythmische Trommeln von Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand gab kund, dass er noch lebte. „Hey, Mann“, brummelte seine Begleiterin, „ich hab dich was gefragt!“ Erstaunt sah er sie an und fuhr ihr beschwichtigend mit der Hand über den Arm: „Wie?“ 

22. Oktober 2014

Die Frau am Nachbartisch

Ihre Stimme ist sanft, betörend rein. Sie erinnert an eine gutgestimmte Geige, auf der volkstümlicher Nonsens gespielt wird.

21. Oktober 2014

Dichtung und Wahrheit

Oft hat Onkel Clemens von Christian Morgenstern erzählt, mit dem er als Student auf einer Etage gewohnt hatte. Jede Nacht waren sie unterwegs, die beiden. Mein Onkel Clemens und Christian Morgenstern –! Was für lustige Geschichten die erlebt haben … Ich konnte gar nicht genug davon kriegen. Nicht zu vergessen die Galgenlieder, die er mir vorgelesen hat. Als wir uns im Gymnasium ein Gedicht auswählen durften, habe ich mich für eines von Morgenstern entschieden: Alle Möwen sehen aus, als ob sie Emma hießen. Noch heute kann ich alle drei Strophen auswendig, und immer, wenn ich am Rhein spazieren gehe und eine Möwe sehe, muss ich an Onkel Clemens denken. Später habe ich erfahren, dass Onkel Clemens’ nächtliche Eskapaden mit seinem Kumpel Christian gar nicht stimmen konnten. Der war nämlich schon über zehn Jahre tot, als Onkel Clemens zu studieren anfing. Ich bin mir sicher, was seine Antwort gewesen wäre, wenn ich ihn darauf hingewiesen hätte. Er hätte gelacht und gesagt: Aber es hat dir doch gefallen, oder? 

20. Oktober 2014


Nur Götter würden nicht altern, tröstete er sie. Das sei banal, erwiderte sie gereizt. Ein Segen, dass er nicht von Göttinnen gesprochen hatte.

17. Oktober 2014

Sanitäre Vorrichtungen im Mittelalter zur Aufnahme von Körperausscheidungen.

Mit diesem Thema war nicht viel Staat zu machen. Nicht einmal zum lockeren Smalltalk eignete es sich, und zum Tischgespräch schon gar nicht. Deshalb verkürzte sie es, wenn ihre Dissertation zur Sprache kam, auf Architektur im Mittelalter. Natürlich waren ihr attraktivere eingefallen – Speisezubereitung zur Zeit Karls des Großen oder Minnelieder im 12. Jahrhundert. Auch den Staufer-Friedrich, den stupor mundi, hatte sie im Sinn gehabt. Doch ihr Professor, ein angesehener Mediävist, war nicht bereit, ihr das Thema Kloake zu ersparen, das kein anderer seiner Doktoranden anzunehmen bereit war. Als erfahrener Doktorvater hatte er spätestens, als er sie auf dem Universitätsgelände aus einem Jaguar aussteigen sah, erkannt, dass es ihr um nichts anderes als um den Titel ging und nicht um wissenschaftliche Meriten oder gar um eine Karriere an der Universität. So gesehen war sie die ideale Besetzung, um die Lücke, die schon seit Jahren in seinem Forschungsprogramm offenstand, zu schließen.

14. Oktober 2014

13. Oktober 2014

Sein zu offensichtlich aufgesetzter Charme prallte an ihr ab wie ein Ball an der Hauswand.

Harmonie ist, wenn sich alle Teile nahtlos fügen.

















Volkach

Pinot Grigio

Während er die Tafel, auf der die Weine mit Kreide geschrieben standen, studierte, alle so um die 3 Euro, sprach sie den Schankkellner an, ob er denn auch italienische Weißweine habe. Ja, hier, sagte er, und deutete auf eine kleine Tafel: Pinot Grigio 5,20. Ja, den möchte sie haben, sprach sie im Tonfall des Connaisseurs. Sie ist nicht die einzige, die aus dem Pastachampionat der Italiener den Analogieschluss zieht, deren Weißweine könnten einen ebensolchen Respekt beanspruchen. Ein gehöriger Irrtum! Was Weißweine angeht, macht unseren Winzern keiner was vor. 

12. Oktober 2014

Alle Preise enden mit einer Neun




Die Bank hatte er aus ein paar Wingertstickel zurechtgezimmert. Bei gutem Wetter saß er hier und tröstete sich mit dem Blick ins Rheintal. Als ich ihm das erste Mal begegnete, war er dabei Nüsse aufzulesen und sie mit der Handwaage abzuwiegen. Pfundweise verkaufte er sie an Wanderer, die vorüberkamen. In der nussfreien Zeit blieben sie dann wie alte Bekannte zu einem Plausch bei ihm stehen. Das schmale Feld war zuvor ein Wingert, der jahrzehntelang das Maß an Wein erbrachte, das ihm bis zum nächsten Herbst reichte. Nach dem Tod seiner Frau ließ er ihn ausreißen, hat er mir erzählt. Er hatte keine Lust mehr, sich darum zu kümmern. Ich habe ihn schon ein paar Jahre nicht mehr gesehen. Vermutlich lebt er nicht mehr.

10. Oktober 2014

Wenn die Mafia ein Parkhaus baut













und keiner nutzt es, schlägt sie allen Autos, die in der Nähe parken, die Scheiben ein. Die Stadt macht das anders. Wenn sie ein überflüssiges Parkhaus baut, erklärt sie die Straßen drumherum zu Parkzonen für Anwohner oder stellt Poller auf.


Er ist der Kammerton seiner Familie.
Alle müssen sich auf ihn einstimmen. 
Wer dem nicht Folge leistet, hat mit 
Konsequenzen zu rechnen. 

8. Oktober 2014


Im Vorbeigehen streichelte sie ihm die Schulter. 
Er schaute ihr grinsend nach und murmelte: Zimtzicke
Irgendwie hatte er eine Schwäche für sie.                                                                                                                            

6. Oktober 2014

à Fontana


Mit Hilfe der Kamera

















wird der Urlaub von lästigen Gerüchen, Baulärm, 
Ehestreit, Bauchweh und sonstiger Unbill gereinigt. 

Gestern im Biergarten

hat sie die Schiene von ihrem verstauchten Finger entfernt und dem wildfremden Mann am anderen Tisch von ihrer Malaise erzählt. Das hätte sie noch vor ein paar Jahren nicht gemacht. Sie wird älter.

4. Oktober 2014

Am Vierertisch

der mit den abstehenden Ohren und der flachen Nase … Alles ist kurz an ihm, die Beine, die Arme, und er hat kein Kinn. Aber er ist voller Energie wie ein Boxer, der auf der Straße erfolgreicher ist 
als im Ring. Seine Frisur, der Scheitel in der Mitte, die Haare auf beiden Seiten nach außen gewellt, erinnert an einen Wasserbüffel. 
Und sie, seine brünette Begleiterin, ihr Busen schwebt frei und unverzagt in der Bluse.























Die junge Frau zog den in Zellophan verpackten Strauß immer wieder an der schnuppernden Nase vorbei, während er zwei berstende Reisetaschen aus dem Kofferraum wuchtete, einen kleinen Kastenkoffer (wahrscheinlich der Schminkkoffer) vom Rücksitz holte und die Tür abschloss. Unterdessen war sie auf die andere Straßenseite gegangen. Aus dem Fenster im ersten Stock schaute eine ältere Frau heraus und winkte. 

Ganz gleich, wer von beiden am Steuer sitzt

er oder sie, und ganz gleich, ob er oder sie einen Mann oder eine Frau nach dem Weg fragt, immer ist er es, dem der Weg erklärt wird. Sie meint: Das ist Sexismus!

3. Oktober 2014

Die Erbin

(zumindest hatte die Verstorbene ihr versichert, dass sie es sein würde) schritt tief bewegt in der zweiten Reihe hinter dem Sarg her, von ihrem Liebhaber und der Frau des Klavierstimmers gestützt. Davor, in der ersten Reihe, folgte die Nichte dem Sarg, eine vierzig Jahre alte mäßig erfolgreiche Journalistin,  flankiert von zwei Männern, die eine Phalanx bildeten, durch die keiner die Chance hatte, der  Erblasserin zu nahe zu kommen. Alle, bestimmt auch der Pfarrer, sind gespannt, wer von beiden in das schöne, große Stadthaus einziehen wird.

Der kleine Mischling

der unter dem Tisch saß, gab dumpfe Klagelaute von sich und schlug mit dem Schwanz auf den Boden, was aber sein Herrchen und sein Frauchen nicht zur Kenntnis nahmen. Sie konzentrierten sich ungerührt auf ihre Teller – er auf sein Kotelett vom Hällischen Schwein und sie auf ihre Leberklöß. Was würden die sagen, wenn jetzt ein Chinese vorbeikäme und beim Anblick des Mischlings mit der Zunge schnalzte …

1. Oktober 2014

Anrufbeantworter sind zutiefst verunsichernd.

Weil schon ein leichtes Stocken der Stimme oder ein Räuspern mehr sagt, als man sagen will. Jedes Luftholen, jede Pause kann gegen einen verwendet werden. Es gibt kein Zurück. Man ist diesem Apparat schutzlos ausgeliefert.

Sein Redefluss mäanderte dahin,

suchte vergeblich nach Ufern, an denen er Halt finden könnte, und breitete sich immer weiter aus, um schließlich zu versickern, ohne eine Spur zu hinterlassen. Hätte er nur gehustet, es wäre nicht weniger dabei herausgekommen. 


Immer wenn ich
an der Ecke vorbeikam
und das Boot sah
wusste ich wo's langgeht